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Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 28 - 15. Juli 1979    Seite 3
© Jürgen Duenbostel

Das Dorf hat seinen traditionellen Charakter verloren. Alte Höfe, einst von Familien betrieben, werden zu Unternehmen, die sich in internationaler Konkurrenz durchzusetzen haben. Wer nicht wächst, muß weichen. Die Landjugend will solcher Logik nicht mehr länger folgen: Der Mensch soll wieder Ziel des Handelns sein.

Heu, das gibt's bei uns längst nicht mehr

Von Jürgen Duenbostel

Dumpfe Trommeln und schmetternde Fanfaren hallen durch die Innenstadt von Münster. Freiheitslieder aus dem Bauernkrieg und Weisen aus dem Dreißigjährigen Krieg gegen Knechtschaft und Unterdrückung wechseln ab mit When the saints go marching in .

Während sich beim Bauerntag in der Münsterhalle vor surrenden Kameras der Freiherr vom Deutschen Bauernverband mit dem Grqafen vom Bonner Wirtschaftsministerium um Steuern und Preise streitet, macht in der Stadt die Landjugend auf ihre Lage und ihre Zukunftsaussichten aufmerksam.

Noten

Lied aus dem 30jährigen Krieg
Nachmittags in der Münsterhalle, Bauerntheater der Landjugend. Thema: Landleben. Auf der Bühne sitzt ein Opa auf der Bank. Drei Mopeds knattern heran und halten mit quietschenden Bremsen. Erster Jugendlicher: "Was machen wir denn heute?" - Zweiter Jugendlicher: "Na, Mensch, du stellst vielleicht Fragen. - Disco, Rocken! Was denn sonst?" Dritter Jugendlicher (weiblich): "Aaach, Disco, das stinkt mir auch allmählich."

Der Opa auf der Bank: "Sagt mal, was ist denn mit euch los? Liegt hier beim schönsten Heuwetter auf der Straße, macht Krach, langweilt euch." Der erste Jugendliche: "Also Opa, Heu, das gibt's bei uns nicht mehr, samstags mal Rasenmähen, das ist das Äußerste!"

Ziellos
und hilflos

Dann folgt die Geschichte. Wie der Vater, der Bauer war, finanziell nicht mehr zurecht kam und immer mehr Land verkaufen mußte, die letzten Weiden schließlich an das Reitinstitut. Jetzt arbeitet der Vater im Straßenbau und der Sohn sucht eine Lehrstelle.

Der andere Jugendliche ist etwas besser dran. Er hat in der benachbarten Kreisstadt eine Stelle als Maschinenschlosser gefunden ("Die hat sein Vadder beim letzten Landmaschinenkauf mit eingehandelt").

Das Mädchen schließlich pendelt jeden Tag in die Großstadt, wo sie als Telefonistin arbeitet. Fahrzeit für jede Strecke eine Stunde.

Das jugendliche Publikum, mit Autos und Bussen aus nahezu allen ländlichen Gebieten der Bundesrepublik angereist, klatscht bekräftigend Beifall. Die Zuschauer erkennen sich in den Akteuren wieder, in ihrer Ziellosigkeit, ihrer Hilflosigkeit. "Komm, gehn wir ne Runde Pommes essen", endet die Szene, und das Trio auf der Bühne knattert davon.

Dorfleben. Einst steckte noch Sinn darin. In einer Broschüre beschreibt die westfälisch-lippische Landjugend, was die traditionelle bäuerliche Landwirtschaft für die Gesamtgesellschaft bedeutete. Die Landwirtschaft sicherte nicht nur die Ernährung für die Gesamtbevölkerung. Sie sorgte auch für die Infrastruktur des gesamten Landes: "Auch entlegene Räume wurden relativ gleichmäßig besiedelt. Das ganze Land wurde mit vielen Kleinzentren und Märkten überzogen, die eine vielfältige und bürgernahe Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln, aber auch mit vielen kommunalen und kulturellen Einrichtungen ermöglichte. In diesen Kleinzentren wurde auch eine Vielzahl nachgelagerter gewerblicher Arbeitsplätze in dezentralisierter Form geschaffen. So konnten die Menschen, die nicht mehr unmittelbar in der Landwirtschaft beschäftigt wurden, weiterhin im ländlichen Raum leben und arbeiten... Alte Menschen konnten weiterhin vernünftigen und ihrem Gesundheitszustand entsprechenden Tätigkeiten nachgehen, sie wurden nicht einfach abgeschoben.

Die Frauen hatten einen bedeutenden Platz in der Arbeit des Betriebes. Da die Arbeit der Frau für die Existenz des Hofes notwendig war, hatte sie eine sehr wichtige Rolle. Sie war nicht nur Hausfrau. Dazu gehörte, daß sie bei Entscheidungen über Neuanschaffungen, Umbau oder ähnlichen Dingen mitreden konnte und vom Mann als Fachkraft anerkannt und um Rat gefragt wurde.

Die Kinder lernten früh produktive Arbeit kennen und anerkennen und erwarben sich dabei bereits Fähigkeiten für ihre spätere berufliche Existenz. In Generationen erworbene Kenntnisse über Naturzusammenhänge (Klima, Umgang mit Tieren und Pflanzen) und Bodenverhältnisse wurden überliefert.

Alte, Kranke und Arbeitsunfähige wurden auf den Höfen mitversorgt. Ein breites Kommunikationsnetz, wie es den Notwendigkeiten der bäuerlichen WIrtschaftsweise angepaßt war (Nachbarsschaftshilfe, Vereinsleben), sicherte sowohl Hilfe in Bedarfsfällen als auch Ausgestaltung des Zusammenlebens im Dorf."

Dieses harmonisch-romantische Bild ist natürlich nur die halbe Wahrheit, wie auch die Verfasser der Broschüre einräumen. Die Nachteile des traditionellen Lebens auf dem Lande lagen in der oft sehr harten Arbeit auch für Frauen und Kinder, die zu einem frühen körperlichen Verschleiß führte. Die Arbeitszeit war lang. Urlaub gab es nicht. Die medizinische Versorgung ließ zu wünschen übrig und eine niedrige Lebenserwartung war die Folge. Schlechte Ernten und sinkende Preise konnten die Existenz kleinerer Bauern ruinieren. Nur die Söhne und Töchter der Großbauern hatten Aussicht auf qualifizierende Ausbildung. Kinder von Kleinbauern wurden oft schon mit 10 Jahren als Knechte und Mägde verdingt. Es gab eine starre Hierarchie der dörflichen Herrschaftsverhältnisse und eine starke soziale Kontrolle innerhalb der Familie, die wenig individuelle Freiheiten erlaubte.

Trotz allem gab das dörfliche Leben jedoch eine Orientierung, war das Dorf der Hort einer gewissen Stabilität und Sicherheit, der selbst Kriege, Hungersnöte, Seuchen und Naturkatastrophen überdauerte.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Entwicklung, die diesen Charakter des Dorfes innerhalb weniger Jahre entscheidend veränderte. Schon in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren hatte der starke Zustrom von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aufs Land die dörfliche Sozialstruktur schweren Belastungen ausgesetzt.

Vor allem aber wirtschaftliche Prozesse durchbrachen den traditionellen Charakter des Dorfes endgültig. Schon nach dem ersten Weltkrieg hatte die Mechanisierung der Landwirtschaft eine Konzentrationsbewegung zur Folge. Doch erst der Zwang zu einer plötzlichen Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrags - möglich nur durch eine starke Intensivierung der Produktion durch moderne Technik und den Einsatz von Dünge-, Pflanzenschutz- und Futtermitteln - setzte das Dorf einem selbstzerstörerischen Wettbewerb aus. Alte Höfe, traditionell von Familien betrieben, wurden zu Unternehmen, die sich in internationaler Konkurrenz durchzusetzen hatten. Wer nicht rationalisierte, wer nicht ständig investierte und sich dem Zwang zum Wachstum durch Spezialisierung anpaßte, blieb auf der Strecke. Rund die Hälfte aller Höfe fielen seit 1949 diesem Konzentrationsprozeß zum Opfer.

Immer mehr Menschen mußten sich in den Städten nach einer neuen Lebensgrundlage umsehen, denn auch auf die nicht landwirtschaftlichen Arbeitsplätze im ländlichen Raum wirkte sich der Technisierungs-, Konzentrations- und Zentralisierungsprozeß aus. Stellmacher, Schmiede, Sattler, Müller, Molkereien, Landhandel, Metzgereien, Bäckereien, Einzelhandelsläden schlossen die Pforten. Mt dieser Landflucht gab es bald auch für den Arzt, den Pfarrer, den Lehrer, den Polizisten und manchen Wirt im Dorf keine "lohnende Aufgabe" mehr. Der örtliche Bahnhof verlor nach Streckenstillegung oder Fahrplanrationalisierung durch die Bundesbahn seine Funktion. Infrastruktureinrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser, Sozialeinrichtungen und Verwaltungen wurden in wenigen Zentren zusammengelegt.

So zerfielen die Kommunikationsmöglichkeiten im Dorf. Für viele kleine Dinge, die zu erledigen sind, ist ein langer Weg bis in die nächste Stadt nötig. Alte Menschen, Kranke, Kinder, Jugendliche und jene, die sich kein Auto leisten können, leben einsamer, mühseliger.

Allerdings gibt es auch eine Gegenbewegung von der Stadt zum Land. Nur ist diese Bewegung voll auf die städtischen Interessen ausgerichtet. Für umweltbelastende Industrien, Chemiewerke, Mülldeponien, Atomkraftwerke ist das Dorf gut genug. Auch höhere Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne können schon mal den einen oder anderen Betrieb dazu verleiten, aufs Land auszuweichen, um die Kosten zu drücken. In einer Krise werden diese Betriebe dann häufig wieder geschlossen, weil der Widerstand dagegen auf dem Land am geringsten ist.

So wird das Dorf von einer eigenständigen Lebensgemeinschaft mehr und mehr zu einem Anhängsel der Stadt, zum Randständigen, das die Ballungszentren bei Bedarf in Anspruch nehmen, das nur noch Ersatz- und Hiflsfunktion hat.

Industrielles Kapital dringt längst auch direkt in die Landwirtschaft vor. Die fabrikmäßigen Hühnertürme stehen längst nicht mehr allein da. Auch die Aufzucht von anderem Vieh wird inzwischen auf engstem Raum, computergesteuert betrieben. Nahrungsmittelkonzerne nehmen Bauern unter Vertrag. Dabei schreibt der Konzern vor, was der Bauer auf seinen Feldern anzubauen, wann er Dünger, Pflanzenschutzmittel und dergleichen einzusetzen hat. Der Konzern garantiert dafür die Preise für die Ernte und sichert dem Bauern so ein gewisses Basiseinkommen. Doch im Grunde genommen ist der Bauer der Vertragswirtschaft schon ein Lohnarbeiter, denn auch über das Land verfügt er nicht mehr frei.

"Wer jetzig Zeiten leben will, muß han ein tapferes Herze", lautet der Anfang eines Liedes aus dem 30jährigen Krieg, dessen Text der Bund der Deutschen Landjugend in Münster verteilte. Ähnlich bedrückt und doch entschlossen war die Stimmung der Delegierten, als man die "Perspektiven der Landwirtschaft bis zur Jahrhundertwende" diskutierte. Es waren durchweg hochqualifizierte junge Leute, die dort die Landjugend repräsentierten, Betriebsinhaber mit Fachhochschulabschluß, Gymnasiasten, Facharbeiter, Studenten. Als ein Experte auf dem Podium neuere Forschungsergebnisse der Chromosomenforschung etwas ungenau darstellte, wurde er von einer Landjugenddelegierten sofort korrigiert. Sie arbeitet zur Zeit an einer Dissertation über dieses Gebiet.

Trotz solch hoher Qualifikationen waren sich viele der Delegierten nicht sicher, ob sie überhaupt noch eine Zukunft auf dem Lande haben. Denn durch den Marktmechanismus und Wachstumszwang werden immer größere Betriebseinheiten erforderlich, um profitabel zu bleiben. Selbst 20-Hektar-Betriebe, vor einiger Zeit noch als Großbetriebe betrachtet, geraten heute in Bedrängnis. Schon hat ein gnadenloser Kampf um verbliebenes Pachtland eingesetzt, denn nur die größten Höfe werden überleben. Als Referent vom Statistischen Amt der EG- Kommission stellte Dr. Günther Thiede die Prognose auf, daß technische Neuerungen und Züchtungserfolge die Erträge in den nächsten zwei Jahrzehnten gewaltig steigern werden. Die 7000-Liter-Kuh, heute noch eine Spitzenleistung der Züchtung, wäre dann der Durchschnitt. Durch die Technik der Zellkernverpflanzung (Klonen) werde man eines Tages in der Lage sein, identische Exemplare eines Spitzenleistungstieres in beliebiger Anzahl zu produzieren.

Ginge man von der heutigen Anzahl der Höfe und Viehbestände aus, würde das bedeuten, daß im Jahr 2000 riesige Überschußmengen produziert würden, die niemand mehr finanzieren könne. Deshalb müßten in den nächsten 20 Jahren 30 Prozent der Agrarfläche und Viehbestände in der Bundesrepublik stillgelegt werden. Die Herausnahme und Stillegung müsse bei den lesitungsschwachen Betrieben erfolgen, so daß nur noch solche Betriebe übrig blieben, die keine Subventionen mehr brauchten. Erreichen könne man dies am besten dadurch, daß man für die Bauern die Abwanderung finanziell attraktiv mache.

Wir wollen
Bauern bleiben

Die Delegierten wollten solcher Logik nicht länger folgen.: "Was ist denn, wenn die Eifel, der Hunsrück und das Sauerland stillgelegt sind, dann gibt es doch wieder unrentable Grenzbetriebe!" Ein junger Betriebsinhaber forderte, wegzukommen von einem rein betriebswirtschaftlich rationellen Denken. "Wir brauchen ein wirtschaftliches Grunddenken, das auch wieder auf Menschen zielt." Der ländliche Raum solle sich seine Prioritäten nicht mehr von den Ballungsgebieten und fremdgesteuerten Märkten vorschreiben lassen. "WIr wollen selbst entscheiden, was im ländlichen Raum geschieht und nicht mehr nur ausführendes Organ sein."

Ein anderer:"Wir wollen Bauern bleiben, mit unserer Familie einen Hof bewirtschaften und dabei ein angemessenes Leben führen." Wenn der Trend zur industriellen Nahrungsmittelproduktion in riesigen Einheiten sich fortsetze, dann werde eines Tages auch der ländliche Raum umkippen und statt "grüner Lunge" selbst Umweltverschmutzer sein. Was liege denn für ein Sinn darin, wenn der eine seine Kühe abschaffen müsse und zum Staatsrentner werde und der andere Kühe mit doppelter Milchleistung unter industriellen Bedingungen halte mit weit höherem Kapital und Risiko.

"Warum", so fragte eine Delegierte schließlich erregt und verzweifelt, "können wir das Wissen nicht dort anwenden, wo es wirklich von Nutzen ist, zum Beispiel in Entwicklungsländern Pflanzen erfinden, die auf kargem Boden wachsen. Es ist mir unerträglich, wenn der Fortschritt der Wissenschaft, der Erkenntnis und das ganze Wachstum als ein unumgängliches Naturereignis hingestellt werden. Ich meine, wenn die Wissenschaft so groß ist und wir alles so können und erfinden und erkennen,
dann sollten wir auch wissen, was wir wollen!"

© Jürgen Duenbostel


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