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Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 28 / 1982     Seite 1   (vor Regierungswechsel)
© Jürgen Duenbostel

Die zweite Wirtschaft im Untergrund

Die Schatten werden länger

Von Jürgen Duenbostel

Milliarden sind es, zig Milliarden, die dem Staat verloren gehen. Steuergroschen, mit denen mühelos die derzeltigen Haushaltslöcher gestopft werden könnten, mit denen der Staat vielleicht gar seine Schulden zurückzahlen, sogar weitere Reformen finanzieren könnte. Selbst die Bonner Koalition wäre, gebettet auf solch einem Finanzpolster, wohl noch heute unzertrennlich.

Folglich verdrießt die Regierenden, was sich da im Dunkeln abspielt. "Schattenwirtschaft" nennt es der Kölner Finanzwissenschaftler Günter Schmölders und meint damit eine zweite Wirtschaft, die sich neben der offiziellen Volkswiirtschaft breitgemacht hat, eine Wirtschaft mit Produktion, Handel, Werbung, Verzinsung und Investitionen, doch so wenig greifbar wie Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt. Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung gehören dazu, das Raubpressen von Schallplatten, illegaler Arbeitskräfteverleih, Gewinnverschiebung in Steuerparadiese, Drogenhandel und Prostitution. Aber auch Nachbarschaftshilfe, Heimwerker und Hausarbeit kann man dazu zählen, freiwillige Dienste wie die der Dorffeuerwehr. Einschließen kann man auch Gruppen, die in Selbsthilfe alternative Produktions- und Lebensformen zu entwickeln versuchen.

In dieser "Schattenwirtschaft" wird gearbeitet, werden Umsätze getätigt, Dienste geleistet, Werte geschaffen, die auf den Lebensstandard, auf die Einkommensverteilung, auf die Lebensqualität und die soziale Sicherheit - nützlich oder schädlich - einen beträchtlichen Einfluß haben. Doch für die offizielle Volkswirtschaft gibt es diese Aktivitäten nicht, in der Statistik kommen sie kaum vor, im Bruttosoialprodukt werden sie nicht mitgezählt. Die Steuerbehörden sind entweder nicht in der Lage, die schwarzen Gelder einzutreiben, oder nicht zuständig, weil es sich um steuerfreie Tätigkeiten handelt.

Der anarchistische
Teil der Gesellschaft

Schätzungen für diese nicht offiziellen Aktivitäten schwanken beträchtlich: Auf fünf bis dreißig Prozent des Bruttosozialprodukts wird der Umfang der Schattenwirtschaft taxiert, und ihr Anteil soll wachsen. Unkontrollierbar, sich um Regeln nicht kümmernd, unregierbar, anarchistisch entwickelt sich hier ein Teil der Gesellschaft - im Staate zwar, doch ohne den Staat.

Wer hat nicht schon von italienischen Städten gehört, die nach offiziellen Daten langst pleite sein, längst im Elend versunken sein müßten, in deren Straßenrestaurants sich aber wohlhabend strotzendes Leben abspielt? Und wer hat in unserem Land nicht schon einmal etwas "ohne Rechnung" billiger bezogen, kennt nicht die Geschichte von dem Arbeitslosen, der mit Arbeitslosengeld und Schwarzarbeit mehr verdient als in einem offiziellen Job? Gibt es nicht auch im öffentlichen Dienst viele schwarze Schafe, wie jenen Beamten der Baubehörde, der für gutes Geld in Schwarzarbeit Baupläne und Berechnungen erstellte, die anschließend offiziell und zügig genehmigt wurden?

"Mafia-Firmen" beherrschten inzwischen mit illegalen Arbeitskräften und Steuerhinterziehung 80 Prozent des Marktes der Gipser, so klagte ein Vertreter der Interessengemeinschaft der Gipser unlängst auf einem Seminar der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema Schattenwirtschaft. Viele Gipser-Firmen, die legal arbeiteten, seien dadurch kaputtgegangen. Betriebe, die überleben wollten, müßten sich notgedrungen den dubiosen Praktiken anpassen.

Bei der Überprüfung von 3650 Bauanträgen in Fürstenfeldbruck, so konnte man ferner hören, wurde festgestellt, daß die Hälfte der Bauten in Schwarzarbeit oder Nachbarschaftshilfe errichtet worden war. Rund zehn Prozent des Umsatzes und ungefähr 200 000 Vollzeitarbeitsplätze gingen allein Handwerksbetrieben durch Schwarzarbeit verloren, so schätzt der Zentralverband des Deutschen Handwerks - eine Zahl, die allerdings genauso schwer zu überprüfen ist wie die Schwarzarbeit selbst.

Wie aber sollen Regierungen noch eine wirksame Wirtschaftspolitk betreiben, wenn infolge des großen Bereichs der Schattenwirtschaft alle Zahlen, auf die sie ihre Maßnahmen stützen, verfälscht sind? Dürfen sie diese "zweite Volkswirtschaft" überhaupt noch dulden in einer Zeit, in der Finanzminister und Kämmerer kaum noch wissen, woher sie das Geld für notwendige öffentliche Aufgaben nehmen sollen?

Durch die illegale Wirtschaft würde der Wettbewerb verzerrt, Arbeitsplätze würden gefährdet, die soziale Absicherung werde aufs Spiel gesetzt und der Arbeitsschutz mißachtet, betont Doris Cramer, Regierungsdirektorin im Bundesarbeitsministerium. Die sozialen Folgen solcher Praktiken fallen der Gemeinschaft zur Last. Wenn aber einzelne privaten Profit zu Lasten der Allgemeinheit machten, indem sie gegen die von der Mehrheit anerkannten Gesetze und Regeln verstießen, dann habe der Staat die Aufgabe, solche Illegalität zu bekämpfen, will sagen: Kontrollen verstärken.

Mehr Kontrollen also. Aber bekämpft man damit nicht die Symptome, anstatt an die Ursachen der Schattenwirtschaft zu gehen? Sind nicht zu viele Kontrollen, zuviel Regulierung, zuviel Bürokratie, zuviel Staat die Ursachen für manchen Bürger, in die Untergrundwirtschaft auszuweichen?

Ist die Ausweich-Ökonomie nicht sogar das Schmiermittel für die "offizielle" Wirtschaft, weil sie Lücken auffüllt, Mängel ausgleicht? Sind das beste Beispiel dafür nicht die überbürokratisierten Planwirtschaften des Ostens, wo man, so der Schriftsteller Gabriel Laub, "den Sozialismus nur dann aufbauen kann, wenn das die Arbeiterklasse in Schwarzarbeit übernimmt"? Hat nicht inzwischen auch bei uns die Steuerlast eine Schwelle erreicht, die manche Dienstleistung so verteuert, daß der Normalverbraucher sie zu den offiziellen Marktpreisen nicht mehr bezahlen kann, die Betriebe in die Steuerhinterziehung und Arbeitnehmer in die Schwarzarbeit geradezu hineintreibt?

Manche Erklärung, so einleuchtend sie klingt, muß durchaus nicht zutreffen. "Die Behauptung, daß die Steuerquote in der Bundesrepublik gestiegen sei, ist falsch. Sie hat in den letzten dreißig Jahren um plus/minus ein Prozent geschwankt", betonte der Frankfurter Professor Fritz Neumark in Tutzing. Gestiegen sei hingegen die Zwangsabgabenquote für die Sozialversicherungen. Dafür erhalte man heute aber auch zum Beispiel von der Renten- oder Krankenversicherung mehr Gegenleistung.

Wenn man die Subventionen in die Rechnung einbeziehe, sei die Belastung der Unternehmen durch den Staat seit den sechziger Jahren sogar von 21.5 auf 17,5 Prozent gesunken, ergänzt Thies Thormälen vom Bundesfinanzministerium.

Der Vorschlag, durch Senkung der Steuerquote die Untergrundwirtschaft zum Auftauchen zu bewegen, ist also ein waghalsiges Rezept. Tut sie es nämlich nicht, zwingen zusätzliche Steuerausfälle den Staat, die Sozialausgaben noch mehr zu kürzen. Dann fallen mehr durch die Maschen des sozialen Netzes und müssen versuchen, sich in der Schattenwirtschaft über Wasser zu halten, durch Tauschhandel etwa, wie derzeit in den USA, oder durch Selbstversorgung in alternativen Gruppen. Die Schattenwirtschaft würde wachsen statt zu schrumpfen.

Überlebensstrategien,
die wir lernen müssen

Auch der pauschale Abbau staatlicher Regulierungen und Kontrollen ist sicher kein Patentrezept. Wem wäre damit gedient, wenn legal die Landschaft zersiedelt, die Umwelt verschmutzt und Unfallgefahren mißachtet würden?

Was überhaupt brächte es ein, wenn man die Schattenwirtschaft wirklich total beseitigen könnte? Würden dann alle Schwarzarbeiter in der "legalen" Wirtschaft einen Arbeitsplatz finden, in der es doch kaum noch offene Stellen gibt? Würden die Bürger ihre Wohnung dann zum doppelten Preis - von einer legalen Firma tapezieren lassen?

Viele Arbeiten und Dienstleistungen müßten schlichtweg wegfallen. Der Fiskus würde kaum mehr Steuern einstreichen, die Sozialversicherungen kaurn mehr Beiträge. Die Versorgung der Bürger mit Gütern und Dienstleistungen würde sinken, und zwar auf die im Bruttosozialprodukt ausgewiesene Höhe.

Man kann die Schattenwirtschaft nicht abschaffen. Man kann aber versuchen, auch ihre Lichtseiten zu sehen. Sie ist nicht nur ein Tummelplatz für Gangster. Sie ist auch ein Gradmesser für Krankheiten des offiziellen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Vor allem aber: Sie ist Auffangbecken für diejenigen, die aus dem "normalen" Wirtschaftsprozeß herausgedrängt werden, die dort keine Existenzgrundlage mehr finden. Sie bietet ferner neue Hoffnung, ist ein Experimentierfeld für diejenigen, die in unserer Gesellschaft keine Perspektive mehr sehen.

"Die Frage ist doch, ob unser System überhaupt noch in der Lage ist, Arbeit zu sichern, uns vor Vergiftung zu schützen, den Frieden zu bewahren. Es sind doch Überlebensstrategien, die die Alternativen zu entwickeln versuchen, die wir erlernen müssen!" warf in Tutzing eine junge Frau aus dem Publikum ein.

Es waren auch Überlebensstrategien, als Anfang der dreißiger Jahre Arbeitslosenselbsthilfegruppen auf genosseschaflicher Basis Gemeinschaftsküchen errichteten und Siedlungshäuschen bauten. Werden die heutigen Alternativen für die Gesamtgesellschaft mehr bewirken als die von damals? Wird die offizielle Wirtschaft sich heute reformfähiger zeigen? "Alternative" und "Offizielle" - sie beide müssen aus der Geschichte lernen.


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