Man könnte denken, es sei in den Alpen, nicht auf Kreta. Durch schroffes Hochgebirge schlängelt sich der schmale Pfad in engen Serpentinen steinig hinab ins Tal. Vorbei an knorrigen Kiefern, an kühlen, klaren Quellen, die aus dem Fels entspringen.
Nach knapp drei Stunden Fußmarsch lädt das Dorf Samaria zur Rast. Aus rohem Stein gebaute Häuser, verwittert und verlassen.
Weiter geht's. Die Schlucht wird enger, karger. Der Wasserlauf versickert sacht im Kies des Bachbetts und schießt dann unvermutet weiter unten wieder aus dem Boden.
Die Berge drängen aneinander. Senkrechte Wände, überhängend. Wie durch eine tiefe Gletscherspalte, die versteinert ist, zwängt sich der Weg. Nur mittags, nur für wenige Minuten, dringt hier die Sonne bis zum Grunde durch. Der blaue Himmel, hoch über der Spalte, wirkt unerreichbar fern.
Dann öffnet sich das Tal: Ein altes Haus, ein Esel, halb weggespülte alte Brücken, dann das Meer. Tief blau rollt es heran. Wie weiße Zähne fressen sich die Wellenkämme am Ufer in den Kies.
Zwei, drei Hotels gibt es in dieser Bucht. Sie haben jetzt, nach der Saison, geschlossen. Georgio, der Grieche, holt sein kleines Boot und bietet an (für gutes Geld), nach Sugia, dem nächsten Ort, zu fahren, von hier nur übers Meer erreichbar.
Die Wellen spritzen in das Boot. Es tänzelt auf dem Meer einer Nußschale gleich. Und wenn man lauscht und daran glaubt, dann kann man auf den Klippen die Sirenen singen hören.
Ein letzter warmer Strahl der Sonne, dann taucht der rote Ball ins Meer. Die ferne Silhouette eines Frachters durchzieht das Abendrot am Horizont. Vom Süden her haucht eine kühle Brise. Die Uferberge werden Schatten, unförmige Gestalten; und sie bewegen sich, bedrohlich.
Ein Licht in einer Buch, fast wie ein Irrlicht, weist nach Sugia, dem Ziel. Das Bötchen tuckert auf die Klippen zu, schnurstracks, als wolle es zerschellen. Da öffnen sich die Berge und erst jetzt ist es zu sehen: Hinter den Felsen liegt ein kleiner Hafen, gut geschützt vor Sturm und Wellen.
Wir sind am Land. Die Leute in dem Dorf sind schon zur Ruh' gegangen. Ein Haus hat allerdings noch Licht: rote, grüne, gelbe Lampen. "Diskothek" verheißt ein Schild am Dach und "Restaurant" ein anderes. Aus großen Boxen schnarrt Musik in Stereo. Nicht griechische Musik. Man folgt hier dem Geschmack der Gäste.
Die Gäste sind ein junges, buntes Völkchen. Briten, Japaner und Franzosen, Äthiopier und Schweizer, zwei schwarze Brasilianerinnen und - natürlich - viele Deutsche. Sonne, Meer und Zufall haben sie hierher gebracht, wohl auch die Absicht, hier zu überwintern. Sie wohnen in Grotten und Zelten am Strand. Im Dorf hat man sich längst an sie gewöhnt.
Sie treffen sich im Restaurant zum Brettspiel, Essen, Trinken, Tanzen. Zwar haben alle wenig Geld, doch weil er auch im Winter was verkauft, verdient der Wirt nicht schlecht dabei. Die Gäste holen sich Getränke selbst, sie waschen ab und helfen auch beim Kochen. Und ihre Kinder fühlen sich hier wie zu Hause. Der Wirt steht nur am Tresen und notiert, was jeder ißt und trinkt.
Ein Wandgemälde ziert die weißgekalkte Mauer: Jesus in leuchtend bunten Farben, über dem Haupt ein Strahlenkranz. Daneben steht ein Hippie. Bierflaschen in der Hand prosten sie einander lachend zu.
Auf der Treppe an der Seite kauert eine alte Frau, gehüllt in schwarze Kleider, Tücher, wie es auf Kreta Sitte ist seit urdenklichen Zeiten. Sie ist die Oma dieses Hauses. Mit aufmerksamen Augen schaut sie dem bunten Treiben zu und summt die Melodien und wippt vergnügt im Takt der psychodelic music . Der Tape-Recorder spielt bis in die späte Nacht.
Der Tag darauf bringt wieder angenehme spätherbstliche Wärme. Und mittags ist es nicht mehr drückend heiß. Dennoch hält man Mittagspause. Das Dorf versinkt in Lethargie. Ein Esel steht im Schatten eines Ölbaums - döst. Daneben liegt am Wegrand eine Ziege, käut gemächlich wieder. Die Fliegen auf dem schwarzen Holz der Fensterflügel harren aus wie angeklebt. Nur eine Katze, vom Instinkt gesteuert, schaut wie gebannt dem Vogel nach, wohl wissend, daß sie ihn nicht fangen kann.
Ein Schriller Schrei durchschneidet das Schweigen. "to pediaki mu!", ("mein Kind, mein Kind, mein Kind!"). Die Klage einer Mutter. Ihr Junge ist gestorben.
Lange Minuten regt sich nichts. - Durchdringend, immer wieder, schrillt die Klage.
Dann, nach und nach und zögernd, öffnen sich die Türen in der Nähe. Gebückte schwarze Schatten huschen hin zum Haus des Toten. Die Klageweiber stimmen in die Trauer ein.
Am Abend in der Diskothek bleibt auch das Hippie-Völkchen stumm. Sie sind ein Teil des Dorfes, und so teilen sie die Trauer. Nicht ein Transistor quäkt heut' störend. Endloser Klagesang, vom lauen Abendwind getragen, erfüllt den Ort. Der Tod ist Teil des Lebens hier.
Am nächsten Tag ist der Gesang verstummt. Die Totenglocke in der kleinen Kirche läutet jeweils mit drei hellen Schlägen. Dazwischen lange Pausen, Schweigen.
Auf Eseln aus den Bergen, in Autos aus den Städten kommen des Toten Freunde und Verwandte. Mit Kerzen in der Hand betreten sie das Trauerhaus.
Man schickt sich an, den Leichnam zu bestatten.
Ich muß jetzt fort. Ich bin hier noch zu fremd, in diesem Dorf, an diesem Tag. Den Rucksack auf dem Rücken geh' ich den kaum sichtbaren Trampelpfad am Bach entlang den Berg hinauf.
Ein Schäfer kommt entgegen, fragt:" Wohin des Wegs?"
"Nach Paleochora", sag' ich.
"Oh", meint er, "das ist weit zu laufen!"
© Jürgen Duenbostel