Nur wenige Gesellschaften sind so zerrüttet wie die in Guatemala. Auch das Friedensabkommen, das 1996 nach mehr als drei Jahrzehnten Bürgerkrieg unterzeichnet wurde, hat kaum Besserung gebracht. Den 3 Prozent Superreichen gehören immer noch 80 Prozent des Landes. Das Wort Landreform wagt kaum jemand auszusprechen. Der Staat ist korrupt und pleite und in vielen Bereichen kaum noch vorhanden. Selbst Morde werden nur selten verfolgt. Die indianische Mehrheit der Bevölkerung ist immer noch von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen - glaubt aber an eine bessere Zukunft.
Von Jürgen Duenbostel
Für diesen Artikel wurde der Autor vom Bundespräsidenten mit dem Medienpreis Entwicklungspolitik 2002 der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausgezeichnet. |
Bei Rot kommen die Feuerschlucker. Die zehn- bis dreizehnjährigen Jungs nutzen die Ampelphasen, um vor den Autos ihre Kunststückchen vorzuführen und sich damit ein paar Münzen zu verdienen. Schon ganz elend sehen sie aus, weil sie so viel bleihaltiges Benzin geschluckt haben, mit dessen Hilfe sie die Feuerfahne blasen. Aber dieses Mal haben sie kein Glück. Die Autofahrer lassen ihre Fenster hochgekurbelt, denn in zwei der fünf Fahrspuren halten Busse direkt vor der Ampel. Als diese wieder auf grün springt, fahren sie mit dröhnend knatternden Motoren an und hüllen die Kreuzung in eine blauschwarze Dieselwolke.
Diese Jungs an der Avenida Reforma in der Hauptstadt Guatemalas zählen eigentlich zu jenen flexiblen, dynamischen Kleinstunternehmern, von denen in der modernen Wirtschaftstheorie so viel die Rede ist. Auch die Maya-Frauen gehören dazu, die amStraßenrand selbst gebackene Tortillas verkaufen, um sich irgendwie durchzuschlagen.
Sehr dynamisch fahren
riskieren Busfahrer ihr Leben. Foto: Jürgen Duenbostel |
Ansonsten ist von Dynamik in Guatemalas Wirtschaft wenig zu spüren. Eine tiefe Krise lähmt das ganze Land. Da ist zum einen der Verfall des Preises von Kaffee, von Guatemalas wichtigstem Exportprodukt. Vietnam und Kambodscha wollen als Neulinge einen bedeutenden Anteil am Weltmarkt für Kaffee erobern und bieten deshalb zu Niedrigstpreisen an. Viele Plantagenbesitzer in Guatemala lassen in diesem Jahr ihren Kaffee gar nicht mehr ernten, weil das mehr kosten würde, als sie durch den Verkauf der Bohnen verdienen. Und die Kleinbauern bekommen für einen Zentner-Sack Kaffee
Foto: Jürgen Duenbostel |
Da sind zum anderen die Auswirkungen der Wirtschaftsflaute in den USA, die sich seit dem 11. September noch verschärft hat. Die Maquila-Fabriken, die zoll- und steuerbegünstigt Textilien für den Export in die USA fertigen, haben bereits viele Beschäftigte entlassen. Die meisten dieser Fabriken gehören koreanischen Unternehmern, die wie feudale Tyrannen mit ihren Arbeitskräften - zum größten Teil Frauen - umgehen. Dennoch sind die Jobs dort begehrt, denn die Alternative ist gar kein Job und vielleicht Hunger. Die Textilbranche zählt hier zu den sogenannten Schwalben-Industrien. Sie ist mobil wie die Zugvögel: Wenn sich die Fertigung in Guatemala nicht mehr lohnt, werden die Maschinen abmontiert und in irgendwelchen anderen Ländern aufgestellt, wo Kosten und Absatz noch günstiger sind. Und Guatemala wird teurer. Weil das Land den US-Dollar als Zweitwährung zugelassen hat und den Wechselkurs schrittweise stärker an den Dollar koppeln will, kann es die Exportpreise künftig nicht mehr durch Abwertung senken.
Längst sind tatkräftige junge Leute in Scharen in die USA abgewandert, um dort Arbeit zu finden, viele von ihnen ohne Papiere. Seit dem 11. September müssen sie vorsichtig sein, sie finden schwerer einen Job und können kaum Geld an ihre Familien nach Hause schicken. Rund 60 Prozent der Deviseneinnahmen Guatemalas aber stammen aus solchen Überweisungen sowie aus der Geldwäsche und dem Drogenhandel. Der wenigstens ist krisensicher, zumal der Innenminister Byron Barrientos der Drogenmafia nahe stehen soll.
Hingegen lassen sich nur noch wenige Touristen in dem Land blicken, das mit Traumstränden, Bergseen, Pyramiden im Regenwald und zahlreichen anderen Kulturstätten Reisenden zahlreiche Attraktionen bietet. Daran ist nicht nur die Angst vor Terroranschlägen schuld. Die rasant angestiegene Kriminalität in Guatemala hat die Außenministerien in Frankreich und den USA veranlasst, vor Reisen in das Land zu warnen. Jetzt wird die Flaute in der Tourismusbranche zu weiteren Arbeitsplatzverlusten führen, und mehr Armut wird die Kriminalität weiter anheizen.
Die Reichen und Superreichen in Guatemala haben sich längst
und hohen Mauern ab. |
Einkaufserlebnis: Langsam öffnet sich das dicke
Fotos: Jürgen Duenbostel |
Das süße Leben hinter hohen Mauern mag auf Dauer langweilig werden. "Aber", so spottet der Repräsentant einer UN-Behörde in Guatemala Stadt, "das Land hat pro Kopf die höchste Anzahl an Hubschraubern und Kleinflugzeugen weltweit." Eine Durchschnittsziffer, von der 97 Prozent der Bevölkerung natürlich nichts haben; sie besitzen ja auch keine Haziendas, zu denen sie am Wochenende fliegen (80 Prozent des Landes gehören den 3 Prozent Superreichen).
Manche hatten in der Vergangenheit wenigstens eine Saisonarbeit bei der Kaffee-Ernte auf einer Hazienda und damit einen kleinen Zusatzverdienst, mit dem sie ihre Familien über Wasser halten konnten bis zur nächsten Maisernte auf ihren eigenen, winzigen Feldern.
verbrieftes Recht auf ihr Land. Foto: Jürgen Duenbostel |
Das hat im Südosten des Landes zur gegenwärtigen Hungersnot geführt, die man im übrigen Land nicht wahrnimmt. Rund 15.000 Familien sind davon betroffen. Nicht, weil es an Lebensmitteln mangelt - schon ein paar Täler weiter wächst alles, und das Angebot auf den Märkten ist reichlich.Auch der Laden für Hunde- und Katzenfutter am Rande des Marktes bietet große Auswahl. Die vom Hunger Betroffenen aber haben schlicht kein Geld. Sie waren 1998 schon Opfer von Ausläufern des Hurrikans Mitch, dessen Regenfluten die Humuskrume von ihren Feldern davonspülte. Dieses Jahr blieb der Regen aus und die Ernte verdorrte. Sie haben keine Essensvorräte mehr und kein Geld, um Essen zu kaufen. Und der Staat tut nichts. Schließlich, nachdem seit Jahresanfang - offiziell eingestanden - über 130 Menschen an Hunger gestorben waren, sprang im Oktober die guatemaltekische Caritas ein und leistete anstelle des Staates Nothilfe.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) wollte mit einem food for work-Programm (Nahrung gegen Arbeit) helfen: Die betroffenen Familien sollten kleine Terrassen auf ihren Feldern anlegen, damit der Boden künftig bei heftigem Regen nicht so leicht weggeschwemmt wird und bei wenig Regen länger feucht bleibt. Dorte Ellenhammer, die dänische Repräsentantin des WFP-Büros in Guatemala, wunderte sich zunächst, dass die Leute passiven Widerstand gegen dieses Programm leisteten. "Schließlich haben wir begriffen, dass die Menschen Angst davor haben, ihre Felder sichtbar zu verbessern. Sie fürchten, dass dann ein Großgrundbesitzer ihr Land beansprucht und es ihnen wegnimmt," erläutert sie.
Die meisten Kleinbauern haben keinen verbrieften Eigentumstitel auf das Land, das sie bestellen. In San Marcos, im Westen des Landes, gibt es aber auch Grundstücke, auf die zwei, manchmal drei Personen einen Besitzanspruch haben. Dort mussten Anfang der achtziger Jahre, während des Bürgerkrieges, über 150.000 Menschen fliehen. Auf den verlassenen Grundstücken siedelte das Militärregime dann neue Bewohner an und stellte ihnen Besitzurkunden aus. Auf das eine oder andere fruchtbare Stück Land erheben außerdem Großgrundbesitzer Ansprüche und setzen diese - nach entsprechenden "Gefälligkeiten" bei den Behörden - auch mit besten Dokumenten durch.
Selbst wo das Besitzrecht eindeutig feststeht, gibt es oft Streit um die Grenzen des Grundstücks. Ein Katasterwesen wie in Deutschland existiert in Guatemala nicht. Und es würde mindestens 50 Jahre dauern, bis alle Grundstücke vermessen sind. Recht erhält normalerweise der, der mehr Geld hat oder die besseren Beziehungen - oder sich sein Recht mit Gewalt nimmt.
Es gibt keine funktionierende Justiz in Guatemala. Richter, die gerechte, mutige Urteile fällen, müssen um ihr Leben fürchten. Viele von ihnen sind bereits ins Ausland geflohen. Selbst bei Morden, so heißt es in der deutschen Botschaft, werden nicht einmal ein Prozent der Täter verurteilt. Die staatliche Polizei ist auf dem Land kaum vertreten, und wo es sie gibt, ist sie kaum in der Lage, das Recht durchzusetzen. Viele der nach dem Bürgerkrieg neu eingestellten Polizisten haben nicht einmal sechs Jahre lang die Volksschule besucht und können nicht lesen und schreiben. Und wie sollen sie bei einer Fahrzeugkontrolle ernst genommen werden, wenn nicht einmal ihr Polizeiauto Rücklichter hat?
Abends, an einer Kreuzung in der 2. Avenida in der Zona 10 in Guatemala Stadt, hat sich ein Unfall ereignet. Der Fahrer eines schweren Geländewagens hat ein Stoppschild nicht beachtet und ist mit voller Geschwindigkeit in ein Taxi gekracht. Der Taxifahrer ist schwer verletzt, das Taxi hat einen Totalschaden. Die Polizei ist sofort zur Stelle. Aus dem Geländefahrzeug torkeln zwei offensichtlich schwer trunkene Weiße. Sie sprechen mit den Polizisten. Einer zückt seine Brieftasche. "Der Fall kommt nie zur Anklage", kommentiert Alex Möller, ein deutscher Consultant, der für die GTZ arbeitet und schon lange im Lande lebt und den Vorgang vom benachbarten Restaurant aus gesehen hat. "Aber der Taxifahrer ist für den Rest seines Lebens ruiniert; er kann seine Krankenhausrechnung nicht bezahlen und soll möglicherweise noch dem Taxibesitzer den Schaden ersetzen."
So etwas führt zur Selbstjustiz. Und die trifft manchmal Unschuldige. Im März hat die Bevölkerung in Alta Verapaz das Haus eines Friedensrichters gestürmt, in Brand gesetzt und den Richter gelyncht. Sein Vergehen: Er hatte einen Autofahrer, dem ein Kind vors Auto gelaufen war, bis zur Verhandlung wieder auf freien Fuß gesetzt. Auch Lynchmorde werden nur selten geahndet. 184 sind in den letzten fünf Jahren dokumentiert, die zu keinerlei strafrechtlichen Verfolgung geführt haben. Meist sind ja nur Arme betroffen - wie Anfang Oktober, als fünf Diebe in der Hauptstadt einen Marktstand überfielen und die Kasse klauten. Drei von ihnen wurden von den Händlern der umliegenden Stände auf der Stelle erschossen.
An Straflosigkeit sind aber vor allem Militärs und ehemalige Paramilitärs, die sogenannten zivilen Selbstverteidigungskräfte, interessiert, die im Bürgerkrieg Massaker begangen haben. Insgesamt 35 Jahre hatte der Bürgerkrieg gedauert, bis 1996 die Friedensabkommen in Kraft traten. 1961 hatte der bewaffnete Widerstand begonnen, sieben Jahre, nachdem das Militär mit Hilfe der CIA den demokratisch gewählten Präsident Jacobo Arbenz gestürzt und durch eine Militärherrschaft ersetzt hatte, in deren ersten beiden Jahren allein 8000 Bauern ermordet wurden. Den USA hatten die Reformen von Arbenz, insbesondere seine Landreform, nicht gefallen. Die hatte nämlich besagt, dass brachliegendes Land gegen Entschädigung enteignet wird. Damals gehörten der US-Gesellschaft United Fruit Company 42 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Guatemalas, und 85 Prozent davon lagen brach.
Die Guerilla-Organisationen blieben durch den gesamten Bürgerkrieg hindurch relativ schwach - anders als im Nachbarland El Salvador. Aber das Militär und die Paramilitärs konnten die Guerilla auch nicht völlig besiegen, vor allem, nachdem diese gegen Ende der siebziger Jahre sich besonnen hatte, mehr mit den Indios zusammenzuarbeiten und aus deren Gebieten heraus zu operieren. Die verschiedenen Völker der Mayas bilden rund 60 Prozent der Bevölkerung des Landes, stellen aber bis heute noch nicht mehr als 3 Prozent der staatlichen Entscheidungsträger.
Für die Militärs und Paramilitärs waren die Indios grundsätzlich verdächtig, die Guerilla zu unterstützen. Sie waren damit auch die Hauptopfer von Militärüberfällen auf Dörfer. Besonders in der Hochland-Region San Marcos im Südwesten des Landes gab es zahlreiche Massaker (vgl. Artikel auf Seite 122). Rund die Hälfte aller Hochlandbewohner musste im Bürgerkrieg fliehen.
Vor allem Katholiken im Hochland waren für Militärs und Paramilitärs von vornherein verdächtig. Denn während zu Anfang des Bürgerkrieges die meisten katholischen Bischöfe die Oligarchie unterstützten, hatten sich die Priester in den Dörfern früh auf die Seite der Armen gestellt. Sie bekamen aber Konkurrenz von konservativen evangelischen Missionaren und evangelikalen Sekten aus den USA. Vor allem nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 1976, bei dem 27.000 Menschen ihr Leben verloren, fassten diese Fuß in Guatemala. Mit viel Geld leisteten sie Hilfe insbesondere in der fast völlig zerstörten Stadt Chimaltenago, und von dort aus rückten sie in die Hochland-Dörfer vor. Sie predigten den Frieden der Seele statt Einmischung in die Politik.
Für die Militärs waren deshalb die Katholiken die Bösen, während sie evangelische Christen als ihre Verbündeten ansahen. So konnte der Eintrag "evangelisch" oder "katholisch" im Personalausweis über Leben und Tod entscheiden. Noch heute sind die Gesellschaften in den Dörfern tief gespalten, feiern nicht einmal die hohen Feste gemeinsam. Es gibt großes Misstrauen untereinander. Wenn etwa jemand eine öffentliche Versammlung besucht, der früher zu den "zivilen Selbstverteidigungskräften" gehört hat und nach den Friedensabkommen demobilisiert worden ist, vermuten die meisten, er spioniere nach wie vor für das Militär - zumal wenn er dank irgendwelcher Geldquellen besser lebt als viele andere im Dorf.
Angst davor, dass die alten Zeiten noch nicht vorbei sind, mag auch dazu beigetragen haben, dass die Partei von Ex-Diktator General Efrain Rios Montt bei den letzten Wahlen im Jahr 1999 gerade in den Hochlandgebieten viele Stimmen erhielt, obwohl das Militär dort 1982 unter seiner Führung besonders brutal vorgegangen war. Oder hat sein populistischer Wahlkampf mit "Ruhe und Ordnung"-Parolen und dem Versprechen, scharf gegen die Kriminalität vorzugehen, soviel Glauben bei den Mayas gefunden?
Rios Montt ist jedenfalls wieder der starke Mann im Land, obwohl er als Parlamentspräsident eigentlich unter dem Präsidenten Alfonso Portillo steht, der - nach der Verfassung jedenfalls - unserem Bundeskanzler vergleichbar ist. Und das Militär ist auch nach den Friedensabkommen nicht wirklich entmachtet. Natürlich müssen hohe Militärs ihre Kredite bei der Militärbank nicht zurückzahlen; der Staat sorgt für den Ausgleich des Defizits. Das Militär präsentiert sich auch als die einzige Kraft, die der Kriminalität wirklich Herr werden könnte, patrouilliert wieder in den Städten (und liefert gleichzeitig Waffen an Jugendbanden in den Trabantenstädten von Guatemala Stadt, um so noch unentbehrlicher zu erscheinen).
Gleichwohl lassen sich die Mitglieder der katholischen Menschenrechtskommission nicht einschüchtern. Akribisch sammeln sie Beweise und Zeugenaussagen, lassen Opfer aus Massengräbern exhumieren, um die Täter von Massakern vor Gericht zu bringen. Sie tun das bewusst unter Lebensgefahr. Denn Militärs und Paramilitärs mögen ihre Arbeit nicht. Zwar schien zunächst ein Durchbruch erreicht, als Bischof Juan José Gerardi am 26. April 1998 in der Kathedrale von Guatemala Stadt den REMHI-Bericht vorstellte, eine Studie zur Recuperacíon de la Memoria Historica (Wiederherstellung der historischen Erinnerung), in der Menschenrechtsverletzungen zwischen 1960 und 1995 und eine Reihe von Tätern dokumentiert sind (vgl. "der überblick" 3/99).
Die Namen der Opfer aus dem REMHI-Bericht sind heute in die Marmorsäulen des Gitters vor der Kathedrale eingraviert,
Marmorsäulen vor der Kathedrale eingraviert. Foto:Jürgen Duenbostel |
Als Bischof Gerardi den REMHI-Bericht in der Kathedrale vorstellte, umarmten Ex-Guerilleros und reuige Ex-Militärs einander in der Hoffnung, dass nun neue Zeiten begönnen. Aber nur zwei Tage später wurde der Bischof ermordet. Die staatliche Strafverfolgung machte sehr schnell einen Bettler als Täter ausfindig, stellte dann aber das Verfahren ein, als dessen Alibi nicht zu erschüttern war. Die katholische Menschenrechtskommission gab jedoch nicht auf und erreichte schließlich die Wiederaufnahme des Verfahrens und eine Verurteilung der Täter, die den Mord direkt ausgeführt haben - in erster Instanz jedenfalls. Aber wie viele der Kommissionsmitglieder werden beim Urteil der höchsten Instanz noch leben?
Es geht der Kommission aber nicht so sehr darum, dass die Täter der Menschenrechtsverbechen abgeurteilt werden. Sie will vor allem, dass die vergangenen Verbrechen nicht mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt werden, sondern dass aus der Erinnerung gelernt wird, um neue Strukturen der Gerechtigkeit zu schaffen. Dabei geht es auch um die Alltagsgewalt, etwa in der Familie und gegen Frauen. Wie kann man eigene Aggressionen abbauen oder auf aggressives Verhalten beruhigend reagieren? Es ist nicht leicht, dem Klima der Gewalt in einer seit vielen Jahrzehnten immer stärker brutalisierten Gesellschaft entgegenzuwirken.
Wo soll man anfangen, gerechtere Strukturen zu schaffen? Die kleine, reiche Oberschicht ist an Reformen nicht interessiert. Sie kann sich ihr Recht erkaufen, lehnt eine Landreform auf das heftigste ab und genießt es, fast keine Steuern zu zahlen (1997 wurde die Einkommenssteuer gesenkt und Steuerhinterziehung ist nicht strafbar); von staatlichen Leistungen hängt sie nicht ab. Der Staat ist mangels ausreichender Steuereinnahmen in vielen Bereichen kaum noch vorhanden. Nur der Druck der internationalen Geber hat bewirkt, dass die Steuerquote wenigstens von 9 auf 11 Prozent gestiegen ist (im Friedensabkommen waren 12 Prozent vereinbart). Aber die Gehaltszahlungen für Lehrer und andere öffentlichen Bedienstete sind Monate im Rückstand.
Es gibt auch keine Gewaltenteilung, keine klare Trennung zwischen Regierung und Parlament. Selbst ein vom Parlament verabschiedetes eindeutiges Gesetz zur Getränkesteuer wurde vor Veröffentlichung im Staatsanzeiger von Rios Montt und Abgeordneten seiner Partei noch ein wenig "redigiert", sodass sich der Steuersatz von 10 auf 8 Prozent reduzierte.
Die Parteien haben kaum politische Grundsätze. Sie sind zeitweilige Wahlvereine für ihre Spitzenkandidaten. Die Stellen in der Verwaltung werden alle vier Jahre mit politisch Willfährigen besetzt, egal ob sie qualifiziert sind oder nicht. Gehört ein Bürgermeister der Oppositionspartei an, muss er sehen, wie er zu Geld für sein Stadtsäckel kommt.
So könnten die Verantwortlichen im Staat kaum größere Reformen durchsetzen, selbst wenn sie wollten. Aber die meisten sind ohnehin mehr daran interessiert, vom Rest des Staates noch möglichst viel für sich privat abzuzweigen. Deshalb tut man alles - ganz im Einklang mit der zentralstaatlichen Tradition -, um alle Fäden in Guatemala-Stadt in der Hand zu behalten und keine dezentralen Entscheidungen zuzulassen. Gesetze und Verordnungen werden bewusst unklar abgefasst. Das lässt dann im Bedarfsfall Interpretationen im eigenen Interesse zu.
Die indianische Mehrheit der Bevölkerung, die auf staatliche Entscheidungen ohnehin kaum Einfluss hat, sieht angesichts der Korruption nicht ein, warum ausgerechnet sie Lohnsteuer zahlen soll. Sie trägt schon die überwiegende Last der Mehrwertsteuer, sieht aber vom Staat so gut wie keine Gegenleistung. Nachdem die Regierung eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 10 auf 12 Prozent beschlossen hatte, kam deshalb ein breites Protestbündnis zustande, von Indigena-Organisationen über den Unternehmerverband bis hin zu den Gewerkschaften.
"Bitte zitieren Sie mich nicht namentlich", sagen fast gleichlautend die Vertreter der deutschen politischen Stiftungen in Guatemala, die Repräsentanten von UN-Organisationen wie das Welternährungsprogramm oder das Büro für Internationale Migration sowie Vertreter der deutschen Botschaft, wenn sie sich kritisch über die Regierung und den Staat äußern. Sie alle glauben, dass es in den nächsten Jahren noch weiter bergab gehen wird, dass Guatemala in totaler Anarchie versinken kann.
Immerhin gibt es in einigen lokalen Rundfunksendern und bei Tageszeitungen wie Prensa Libre (Freie Presse) und El Periodico (Die Zeitung) mutige Journalisten, die die Dinge beim Namen nennen.
Unabhängiger Radiosender. Foto: Jürgen Duenbostel |
Der Bürgerkrieg hat nichts gebracht, die Friedensverträge werden nicht umgesetzt. Der Staat ist korrupt und bankrott. Wo bleibt da die Hoffnung? "Man kann nur noch auf die Jugend setzen, auf die nächste Generation hoffen", meint Thomas Manz, der Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Guatemala.
Viele Mayas sind aber sicher: Es wird besser. In ihrer 3000 Jahre alten Kultur teilen sie die Zeit in 500-Jahres-Perioden ein. Die vergangen 500 Jahre seit der Kolonisierung waren für sie sehr schlecht. Die nächsten 500 Jahre können nur besser werden. Viele von ihnen sind bereit, diese Chance zu nutzen. Zum Beispiel, wenn sie ein Stipendium für die Fortbildung erhalten haben, etwa vom Centro Evangélico de Estudios Pastorales en America Central (CEDEPCA) (siehe Seite 122-23) oder vom Proyecto Ija'tz (Stiftung Samenkorn). Dank eines Gönners konnte das Proyecto mietfrei in der Hauptstadt die ehemalige Villa eines Brauereidirektors beziehen, der aus dem inzwischen unsicherer gewordenen Stadtteil ausgezogen ist. Nach einem Zehn-Stunden-Arbeitstag bringen die Studentinnen und Studenten dort noch die Energie auf, in der Bibliothek zu büffeln. Die meisten von ihnen studieren Architektur, Forstwirtschaft, Medizin, Journalismus oder Wirtschaft, manche sind auch in einer handwerklichen Berufsausbildung. Es gibt nur wenige Abbrecher. "Selbstbewusste und qualifizierte Menschen wie diese werden eines Tages die Dezentralisierung und Reformen durchsetzen und dafür sorgen, dass ihre Bevölkerungsgruppe im Staat mitreden kann", ist sich Marie Christine Zauzich sicher, die vor vielen Jahren das Proyecto mit auf den Weg gebracht hat.
Auf der Avenida Reforma steckt zu Büroschluss wieder alles im Stau, Luxuslimousinen neben Schrottautos dicht an dicht. Laut hupend bahnt sich eine Tierambulanz einen Weg durch den Stau. Eine Katze muss eilig in die private Veterinärklinik. Abends im Fernsehen läuft ein Werbespot für Hundefutter "...gönnen Sie Ihrem Liebling etwas Leckeres..." Dann folgen die Nachrichten. Wieder einmal ist ein völlig unterernährtes Kleinkind in eine Klinik eingeliefert worden und konnte nicht mehr gerettet werden.
aus: der der überblick 04/2001, Seite 81